Der kunstraum muenchen zeigt die erste Einzelausstellung der palästinensisch-jordanischen Künstlerin Oraib Toukan in Deutschland. Im Zentrum der Ausstellung steht Toukans Fotoserie „Painless May, June cut to the heart“ (2011), deren Titel sich auf die Anfangsszene von Godards Film „Der kleine Soldat“ (1960) bezieht. Diskontinuität der Handlung, der Narration und der Logik von Zeit und Raum prägen die Nouvelle-Vague-Filme. Dies wird vornehmlich durch die Montage erzeugt – ein Hauptkonzept der Ästhetik und Semiotik des Films. Jean-Luc Godard radikalisiert die Montage, mit ihr dekonstruiert er Geschichte. In seinem Film „Der kleine Soldat“ sehen wir den Fotografen und Deserteur Bruno Forestier (gespielt von Michel Subor) in einem Cabrio durch die Straßen Genfs fahren, während er in seinem inneren Monolog Louis Aragons Gedicht „Mai ohne Schmerz und Juni erdolcht“ zitiert.
Toukans Serie zeigt eine Sequenz mit mehr als 60 von insgesamt 80 Fotografien aus der Zeit von 1967 bis 1970. Dieses Bildkonvolut stammt aus Toukans langjähriger Sammlung von Fotografien fremder Provenienz – das Sammeln ist wesentlicher Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis. Die Entstehungsdaten (Monat und Jahr) sind auf den Fotografien abgedruckt. Diese Amateuraufnahmen eines Paares dokumentieren die verschiedenen Stationen einer Europareise. Jede der Stationen scheint dem distinguierten, aber auch desillusionierten Paar als Kulisse zu dienen, vor der sie ihre transnationale Zugehörigkeit mittels der Zurschaustellung von Geschmack, Stil und Haltung aufführen können. Während die Fotografien nach formalen und semantischen Eindeutigkeiten und visueller Ruhe streben, brechen die Daten auf den Fotos die lineare Erzählweise auf. Sie verweisen auf die Protestbewegungen und teilweise bürgerkriegsähnlichen Straßenkämpfe im Jahr 1968 in vielen europäischen Metropolen. Somit verdichten sich Informationen auf einigen Fotos zu Metaphern der Entfremdung und Metadaten eines Anachronismus.
Die Sequenz der Fotografien changiert zwischen der Tragweite des Einzelbildes und deren Sinnzusammenhängen, die erst aus dem Verhältnis der Szenen zueinander entstehen. Grafische Anschlüsse und Rhythmisierung erzeugen über die thematischen Parallelen der Einzelbilder hinaus ihre ästhetische Wirkung. Toukans Anordnungen implizieren ein Zerschneiden in der Montage. Sie verdichtet die Serie in geradezu filmischer Bedeutungsproduktion. Das Bild wird zu einem Prozess. In der Montage emanzipieren sich die Fotografien von ihrer ontologischen Zuordnung. Diskontinuitäten, Erschütterungen, Sprünge und Brüche verändern den Blick auf die Geschichte der abgebildeten Personen hin zu einer Geschichte über die Genese von Nationen.
Historische, ästhetische und politische Referenzen vermischen sich auch in ihrer Serie „Colours that appear in this work“ (seit 2011). Hier wechseln sich monochrome Drucke mit re-fotografierten Printmedien verschiedener Herkunft ab (arabische Wochenzeitungen, Museumskataloge, Magazine oder Zeitungen). Die Materialien stammen aus dem Archiv der Künstlerin und dokumentieren unterschiedliche Bedeutungsproduktionen in der Technik der Appropriation. In der Zusammenstellung der referenzreichen Abbildungen wird das Unpersönliche und zugleich Intime des Bildes sichtbar. Mit dieser Serie beschreibt Toukan aber auch das Problem von der Flüchtigkeit der Bilder, die im Unüberschaubaren der Medienlandschaft permanent vom Verschwinden bedroht sind. Die Neu- und Zweitverwertung der Bilder hält dabei insbesondere die Möglichkeit bereit, wechselseitige Erhellung, Um- und Neudeutung durch den Betrachter voranzutreiben. Analog zu diesem prozessualen Charakter des Bildwerdens als auch dem Zusammenspiel des Einzelbildes und seiner Abhängigkeit zu den anderen Bildern zeichnen sich in diesen Aneignungsprozessen auch die Bewegungen der Individuation und der Vergesellschaftung ab.
Oraib Toukan arbeitet medienübergreifend nach einem Verfahren, das sie mit „Mimikry-als-Methode“ bezeichnet. Appropriation, Referentialität und institutionelle Interventionen sind die typischen Strategien ihrer künstlerischen Praxis. Seit der Gründung des kunstraum muenchen stand immer wieder die Konzeptkunst im Fokus der Ausstellungen. Hier zeigten Hanne Darboven und Hans-Peter Feldmann ihre ersten Einzelausstellungen in München und in diese Genealogie lässt sich auch das Werk von Oraib Toukan einordnen.
Toukans Werk wurde bereits international in bedeutenden Institutionen und Ausstellungen gezeigt. Unter anderem im Hordaland Kunstsenter Bergen (2011), im NGBK – neue gesellschaft für bildende kunst und im Kunstraum Bethanien in Berlin (2010), in der Serpentine Gallery (2010), im Irish Museum of Contemporary Art (2010), im InIva London (2010) und auf der 11. Istanbul Biennale (2009). Oraib Toukan lebt in New York, sie lehrt an diversen Programmen für bildende Kunst in Palästina und wirkt an wichtigen gemeinschaftlichen Initiativen in Amman (Jordanien) mit.
Kuratiert von Gürsoy Dogtas.
Die Ausstellung wird gefördert von: Werner Murrer Rahmen und dem Kulturreferat, Landeshauptstadt München.